Ullr

Ullr gehört mit Sicherheit zu den bekanntesten „unbekannten" Göttern. Bekannt deshalb, weil jeder, der sich näher mit unserer Mythologie befaßt hat, seinen Namen schon gehört haben wird. Unbekannt, weil es eine Gottheit ist, dessen Geschichte und Mythen nur noch teilweise aus dem Dunkel der Geschichte aufragen und uns zugänglich sind. Dieser Artikel möchte ein Bild des Gottes zeichnen, ihn deutlicher werden lassen und auch alle ermutigen, sich näher mit ihm zu beschäftigen.

Name

Der Name Ull oder Ullr wird abgeleitet aus dem gotische vulthus = Herrlichkeit. Ullr wäre demnach der Herrliche und auch Snorri schreibt im Gylfaginning (31), er sei schön von Angesicht.

Ortsnamen

Da Ullr eine sehr alte Gottheit ist und schon an Bekanntheit eingebüßt hatte, als die Mythen aufgezeichnet wurden, ist es schwer, herauszufinden, wie stark die Verehrung und der Grad seiner Verbreitung in seiner Blütezeit war. Einen Hinweis darauf liefern uns die sog. theophoren Ortsnamen, also Namen von Ortschaften, in denen Ullr mit einem anderen Begriff verbunden ist.

Eine Verehrung von Ullr ist ausschließlich für Skandinavien belegt. In der Landschaft nördlich des Oslofjordes und in zahlreichen schwedischen Landesteilen ist die Zahl der Ortsnamen allerdings so häufig, daß sie die anderer Götter übertrifft. In Dänemark und auch im schwedischen Landesteil Schonen fehlen sie dagegen völlig.

Der Name des Gottes wurde mit verschiedenen Begriffen verbunden. Zu nennen sind Naturnamen wie Acker und Feld (altnordisch vin, akr, vang) z.B. in den Ortsbezeichnungen Ulleräker bei Uppsala, Ullrain und Ullarvin mehrfach nördlich von Oslo. Interessant sind auch die Begriffe für Tempel und Heiligtum (hof und schwedisch vi), z.B. Ullvi oder Ullevi, und für Hain und Gehege (lundr, tun), weil sie auf Stätten hinweisen, die dem Ullr geweiht waren. Orts- und Flurnamen wie Ullinleik, zu altnordisch leikr = Spiel, Wettspiel, und Ullskeip, zu altnordisch skeip = Wettrennen, Rennbahn, liefern einen Hinweis, daß zu Ulls Ehren wohl auch Wettspiele veranstaltet wurden.

Es gibt zwei Gegenden häufiger kultischer Verehrung, eine in Norwegen, nördlich von Oslo und eine in Ostschweden. Es ist anzunehmen, daß beide  Entwicklungen unabhängig voneinander verliefen, da Ullr in den verschiedenen Gegenden mit anderen Göttern verknüpft wird. Im norwegischen Oplandene gibt es drei Beispiele einer Verbindung mit Freyr (z.B. Ulsaaker-Froisaaker in Halingdal), auch an der Westküste Norwegens treten diese Namen auf. In Schweden wiederum wird Ullr mit Njörd verbunden, es gibt fünf Beispiele, die räumlich weit auseinanderliegen. Auch Verknüpfungen mit weiblichen Gottheiten sind vorhanden, so im östlichen Norwegen mit den Disen (Fruchtbarkeitsgöttinnen) und im östlichen Schweden mit Hörn, eine dem Flachs (hörr) zugeordnete Schutzgöttin, die auch eng mit der Freya verbunden ist. Ullr kommt also, obwohl er in der Edda als Sohn Thors und damit als Ase bezeichnet wird, häufig in Ortsnamenpaaren zusammen mit wanischen Göttern vor. Es muß also in alter Zeit eine besondere Verbindung zwischen Ullr und den wanischen Wachstumsgöttern gegeben haben.

Neben den Ortsnamen, die eine hohes Alter des Ullskultes zeigen, wäre noch die Schwertzwinge von Torsbjerg zu nennen, die aus dem 3 Jahrhundert u.Z. stammt und die Inschrift owlthuthewaR = Diener des Ullr aufweist.

Schließlich ist zu überlegen, warum sich der Kult in Norwegen zwar stark verbreitete, jedoch wenig in nördlicher Richtung, er erreichte nicht einmal die Gegend um Trondheim. Es kommt die Möglichkeit in Betracht, daß die Blütezeit des Ullrkultes schon vorüber war, als die Bevölkerung über den 63. Breitengrad hinausdrang.

Mythen

Mythen, in denen Ullr ganz offen als Hauptperson auftritt, wie z.B. Thor oder Odin, gibt es nicht (bis auf den Ollerus- Mythos), trotzdem gibt es einige Erwähnungen, die seine starke Stellung bezeugen. In einem Lied der Edda, dem Grimnirsmal Vers 42 heißt es:

Ulls Huld und aller Götter erwirbt
wer immer zuerst ins Feuer faßt;
denn offen liegt die Heimstatt der Asen,
wenn man vom Herd den Kessel hebt.

Odin ist hier unter dem Decknamen Grimnir bei seinem Pflegesohn Geirröd zu Gast. Da dieser ihn nicht erkennt und Odin sich auch nicht zu erkennen gibt, setzt er ihn in seiner Halle zwischen zwei Feuer, um ihn durch Hitzefolter zur Preisgabe seines Namens zu zwingen. Einzig Agnar, der Sohn Geirröds, bringt Odin etwas zu Trinken. Der Vers ist, wie vieles in der Edda, durchaus dunkel und rätselhaft. Soll der Kessel vom Feuer genommen werden, damit die Asen besser durchs Rauchloch in die Halle sehen können? Sollen einfach nur die Feuer auseinandergeworfen werden, um die Hitze zu mildern. In jedem Fall verspricht Odin die Huld Ulls und danach die Huld aller Götter, Ullr ist also so wichtig, daß er einzeln und auch zuerst genannt wird.

In einem weiteren Lied, dem Atlilied (Atlakvida) heißt es in Vers 30:

So gehe es Dir, Atli, wie du Gunnar hältst,
die oft geschworenen Eide; Du riefest einst an,
die Sonne im Süden, Sigtyrs (Odins) Berg,
des Ehebetts Pfosten und Ulls Ring.

Atli, der Hunnenkönig Attila, hat den Burgunderkönig Gunnar und sein Gefolge in seine Halle eingeladen und bricht die Eide der Gastfreundschaft und des Friedens, die er mit Gunnar geschworen hatte. Um die Macht des Eides - und dadurch auch den Frevel des Eidbruchs - zu bekräftigen, werden die Zeugen des Eides genannt: Die Lebensspenderin Sonne, die alles sieht, dazu noch im Süden, also auf dem Punkt ihrer höchsten Macht, der heilige Berg des Odin, von dem aus er regiert und auch alles sieht, die Heiligkeit der Ehe - hierzu muß man wissen, daß Atli ja mit der Schwester Gunnars verheiratet war - und eben Ulls Ring. Auf drei Zeugen folgt also der Schwurring.

Man hat sich bei Ulls Ring wohl einen Eidring zu denken, wie im Tempel Thors zu Hofstadir, den der Schwörende ursprünglich anfassen mußte oder auch einen heiligen Altarring, der ja auch immer ein Symbol für Bindung und Unendlichkeit ist.

Attribute

Der Ring ist also ein wichtiges Attribut des Ullr. Welche weiteren gibt es? In der Edda, dem Teil, der Sprache der Dichtkunst (Skaldskaparmal) genannt wird, heißt es in Vers 14:

Wie ist Ullr zu bezeichnen?
Als Sifs Sohn, Thors Stiefsohn, Schneeschuh- Ase, der Langfuß, Bogen-Ase, Jagd-Ase, Schild-Ase.

Und im Gylfaginning (30) liest man:

Ullr heißt ein Ase, Sohn der Sif und Thors Stiefsohn. Er ist ein so guter Bogenschütze und Skiläufer (Schneeschuhläufer), daß keiner sich mit ihm messen kann. Er ist auch schön anzusehen und ein guter Krieger, es ist gut, ihn bei Zweikämpfen anzurufen.

Wenn man das liest, sieht man Ullr sofort als winterlichen Jäger vor sich, bekleidet mit allen Attributen, die man für eine Wanderung über schneebedeckte Ebenen und verschneite Wälder und für die Jagd braucht. Wir wollen uns den einzelnen Attributen widmen:

Schneeschuh und Schild

Saxo Grammaticus (III 81- 82) berichtet, Ullr habe die Zauberkraft, um auf einem Knochen wie auf einem Schiff über das Meer zu fahren. Schlittschuhe gab es bereits in uralter Zeit, und sie wurden aus Knochen hergestellt. Ullr wäre also hier ein Gott, der auf Schlittschuhen über vereiste Gewässer gleitet.
Ein Schneeschuh hat, im Gegensatz zum Schlittschuh, eine eher breite Form, da er ein Einsinken im Schnee verhindern soll. Snorri teilt mit, daß Ullr skidfoerr sei. Das Wort skid bedeutet auch Brett und der Schild wird ebenso genannt. Schließlich heißt es im Skaldskaparmal 48, daß der Schild Ulls Schiff zu nennen sei. Wie soll ein Schild aber als Schiff zu verwenden sein? Ein vollständiger Mythos zu diesem Kenning (Umschreibung) ist uns nicht überliefert. Neben der Doppeldeutigkeit des Wortes skid als Schild und Schneeschuh ist auch an den Bericht über die Kimbern zu denken, die bei ihrem Einfall in Norditalien auf ihren Schilden die verschneiten Alpenhänge hinuntergerutscht sind. So ein Schild ist ja vielseitig verwendbar. Auch in heutigen Skigebieten kann man ja zur Gaudi auf einer Art Plastikschale den Hang hinunterrutschen. Für einen Jagdgott, der eine Fernwaffe (Bogen) besitzt und zudem im Winter unterwegs ist, also weit sehen kann, ist ein Schild als Fortbewegungsmittel möglicherweise wertvoller, denn als Verteidigungswaffe. Allerdings ist Ullr ja auch der Gott des Zweikampfes und wird seinen Schild wohl vielseitig eingesetzt haben. Auch der Riese Hrungnir hat bei seinem Kampf gegen Thor auf seinem Schild gestanden. Vordergründig, weil er von Thors Diener Thjalfi hereingelegt wurde mit den Worten: „Thor greift von unten kommend aus der Erde an, stell dich lieber auf deinen Schild als Schutz!" Vielleicht diente der Schild aber auch zur Fortbewegung wie bei den Kimbern oder für einen sichereren Stand im Schnee.

Einen interessanten Satz möchte ich noch erwähnen: Ebenfalls im Skaldskaparmal 48 lesen wir: Auf die alten Schilde pflegte man einen Rand zu malen, den man Ring (baugr) nannte, und daher werden Schilde mittels dieses Ringes umschrieben. Wir haben hier also wieder eine Verbindung zwischen dem Attribut Schild und dem Attribut Ring.

Bogen

Im Grimnirsmal, Vers 5 steht:

Ydalir (Eibental) heißt es, wo sich Ullr seine Wohnstatt erbaut hat.

Die Eibe liefert das zähe, rötliche Holz, aus dem die Bögen gefertigt werden. Es ist daher nur natürlich, daß ein Bogengott der Eibe nahesteht und dort wohnt. Gelegentlich wird die Vermutung geäußert, daß der „immergrüne Baum unbekannter Art", der in Uppsala im Hofe des zu Ehren von Thor, Odin und Freyr errichteten Tempels stand, eine Eibe gewesen sei. Zumindest ist in der Nähe von Uppsala durch Namen wie Ulleraker (Ulls Acker) und Ulltuna (Ulls Gehege) alter Ullskult bezeugt. Viele wollen in Ullr deshalb neben seiner Funktion als Bogengott einen alten Rechtsgott, ähnlich dem Tyr sehen, der mit dem Weltenbaum und dem Thingfrieden (Eidschwur) in Verbindung steht.

Ollerus-Mythos

Saxo Grammaticus berichtet in seiner Gesta Danorum von der zeitweiligen Verbannung Odins. Ollerus (=Ullr) habe in dieser Zeit geherrscht, sei dann von dem zurückkehrenden Odin vertrieben worden, flüchtet nach Schweden und wird schließlich dort von den Dänen erschlagen. Religionsgeschichtlich steckt hinter Saxos Schilderungen möglicherweise die Tatsache, daß die Schweden für Ullr und die Dänen für Odin eintraten. Immerhin gibt es in Dänemark keine Ortsnamen, die mit Ullr zusammenhängen, in Schweden jedoch schon. Möglicherweise ist Ullr auch eine Art Winterodin. Dagegen spricht aber, daß Odin eindeutig selbst Züge eines Herbst- und Wintergottes aufweist. Vielleicht liegt auch ein „Übergangskampf" zwischen einer schwächer werdenden Ullr-Verehrung und einem Erstarken von Odins Position vor.

Schluß

Wenn man sich mit Ullr beschäftigt, spürt man, daß es sich, wie Tyr, um eine alte Wesenheit handelt, die sich schon ins Halbdunkel der Geschichte zurückgezogen hat, die aber einmal von enormer Wichtigkeit gewesen sein muß. Es kann sein, daß dieser Artikel mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet. Dies ist aber nicht weiter tragisch. Das Studium der Quellen ist wichtig, aber man muß sich irgendwann von ihnen lösen, um in der Natur das Wesen der Götter zu spüren und zu erfahren. Dazu sollte vor allem im Winter eine gute Gelegenheit sein.

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